Wolfram UllrichWolfram Ullrich






Von Form, Farbe und Raum - Zu den Segmenten von Wolfram Ullrich



Wolfram Ullrich nimmt eine unverwechselbare Position in der zeitgenössischen Kunst ein. Er kreiert Artefakte, in denen Tradition und Innovation zu einer Synthese finden. Dabei operiert Ullrich mit einem Formenvokabular, das der geometrisch-abstrakten Kunst verpflichtet ist, die ihrerseits ihre Ursprünge im klassischen Konstruktivismus hat - einer Kunst, die in den 1910er-Jahren begründet wurde, sei es in der Ausprägung des russischen Suprematismus (in der Art eines Kasimir Malewitsch) oder der niederländischen de-Stijl-Bewegung (in der Art eines Piet Mondrian).
Das Gemeinsame dieser Kunstrichtungen war die Absicht, sich von der wirklichkeitsgetreuen Abbildung der sichtbaren Welt zu lösen. Man wollte die Dinge nicht mehr so wiedergeben, wie man sie sah. Man wollte vielmehr mittels abstrakt-geometrischer Formen eine neue Bildwelt schaffen - eine Bildwelt, die allein sich selbst zum Inhalt hatte, sie selbst bedeutete, also reine Farbe, reine Form. Oder wie es Kasimir Malewitsch einmal formulierte, man wollte "die Kunst vom Ballast der gegenständlichen Welt befreien". Und diese Kunst, die konstruktiv-konkrete Kunst, eröffnete ein weites Repertoire an darstellerischen Möglichkeiten. Dies trifft sowohl für die "Urväter" der abstrakt-geometrischen Kunst wie auch für die nachfolgenden Generationen zu. Es ist eine Kunst, die - oftmals totgesagt - nichts von ihrer Frische und Vitalität eingebüßt hat. Und wie vital und facettenreich die konstruktivistische Kunst heute ist, davon legen die in unserer Ausstellung gezeigten Arbeiten von Wolfram Ullrich beredtes Zeugnis ab.
Den Ausgangspunkt für den heute 40-jährigen Künstler bildet das Relief. Also jene künstlerische Ausdrucksform, die im Zwischenbereich von zweidimensionalem Bild und dreidimensionaler Skulptur anzusiedeln ist. Aber der strenge Gattungsbegriff des Reliefs lässt sich auf diese Arbeiten nur bedingt anwenden. So ist das klassische Relief stets an eine Wandfläche - oder an eine Tür, einen Sarkophag, einen Schrein, einen Altar, eine Säule - gebunden und steht mit diesen in einem engen architektonisch-bedeutungsmäßigen Zusammenhang. Das Relief bedarf ja immer einer Fläche, die es trägt.
Doch Wolfram Ullrichs Arbeiten gehen über diesen Gattungsbegriff hinaus. Sie bedürfen zwar noch der Wand als Träger; aber meist ist es nur eine Ecke der Arbeit, die mit ihr in Verbindung steht: Ansonsten löst sich aber das Werk von der Fläche, es erscheint wie im Schwebezustand. Die Wand wird zu einer Art Hintergrundfolie, vor dem sich das Artefakt entfalten kann. Und es tritt noch ein weiterer Effekt ein. Durch die Entfernung von der Wand bildet sich ein Schattenwurf, der die Räumlichkeit unterstreicht. Es kommt so zu einer Wechselwirkung von innerer und äußerer, von realer und irrealer Form, die ein dichtes Spannungsfeld erzeugt.
Ein wesentliches gestalterisches Moment in den Reliefs ist das Prinzip der Faltung bzw. der Abschrägung der Fläche. Dafür verwendet er als Werkstoff entweder das relativ leichte Aluminium oder auch den deutlich schwereren Stahl. Das Prinzip der Faltung, des Knickens, des Abschrägens zeigt sich auch in den anderen Werkgruppen von Wolfram Ullrich. Und so lässt sich in all diesen Arbeiten - ob Einzelwerk oder Serie - stets ein durchgängiger Kompositionsgedanke, ein Leitmotiv ausmachen: das Vordringen der Fläche in den Raum. Dieses Gestaltungsprinzip zeigt sich auch in den aus den Reliefs abgeleiteten meist großformatigen Wandarbeiten, die er als Segmente bezeichnet und die sich als Ausschnitte aus dem jeweils vorgegebenen Raum verstehen. Es sind meist, wie in unserer Ausstellung zu sehen, flache, langgestreckte Bildformate, sowohl in streng rechteckiger Ausprägung wie auch in Form von Rhomben oder Parallelogrammen. Der strengen formalen Komposition korrespondiert gleichfalls eine reduzierte Farbpalette: Meist sind es die monochrom gehaltenen Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie die sogenannten Nichtfarben Schwarz und Weiß.
Dient den Reliefs und Segmenten die Wand als Träger, so ist es für die Islands der Boden. Auch bei diesen ist das Prinzip des Faltens oder Abschrägens die bestimmende Kompositionsmethode, aber mit dem Unterschied, dass die vertikale Ausrichtung in die Horizontale übertragen wird. Auch wenn sich die Segmente in ihrer Kompositionsstruktur und konzeptuellen Anlage von den Bodenarbeiten nicht wesentlich unterscheiden, eignet letzteren doch eine ganz eigene auratische Wirkung, die vom "Bildcharakter" in den Bereich der Skulptur verweist.
Um Skulptur im reinen Sinn handelt es sich bei der Werkgruppe der Stelen, den sogenannten Zonen - hochformatige Plastiken, die frei im Raum stehen. Mit diesen Arbeiten geht Ullrich einen folgerichtigen Schritt weiter: Er löst die Reliefs endgültig von der Wand und hebt die Bodenarbeiten vom Grund. Der bestimmende Kompositionsgedanke in den Zonen ist wieder das Prinzip der Faltung, sei es vertikal, horizontal oder diagonal. Bei einigen der Stelen - wie beispielsweise in der anlässlich der Ausstellung für das Wilhelm-Hack-Museum erworbenen Arbeit - wird dies noch durch die unterschiedliche Qualität des Farbauftrags hervorgehoben. Einerseits wirken die Zonen archaisch-monumental, ja fast mystisch-geheimnisvoll, andererseits haftet ihnen aber auch eine schwebende Leichtigkeit an.
Eine ganz neue Werkgruppe aus den Jahren 2001 und 2002 bilden Wandarbeiten, die der Künstler mit dem Begriff Basis bezeichnet. Gedanklich den Wandarbeiten nahestehend, sind sie jedoch voluminöser als die Reliefs, sie erscheinen körperhafter. Das Material selbst - meist geschliffener Stahl - wird hier zum integrativen Bestandteil des jeweiligen Werkes. Es wird nicht von der monochromen Farbschicht "überlagert", sondern tritt in Teilen in seinem genuinen Zustand als werkkonstituierender Faktor in Erscheinung. Es kommt solchermaßen zu einem spannungsreichen Wechselspiel von Farbe und Material.
Im gesamten Werk von Wolfram Ullrich sind die Form und die Farbe stets gleichberechtigte Kompositionselemente. Anders als andere Künstlerkollegen, die den Werkstoff in seinem unbehandelten Zustand belassen und somit, denken wir etwa an Richard Serra oder Bernard Venet, den Materialcharakter zum wesentlichen Ausdrucksmittel des Kunstwerks machen, setzt Ullrich auf die Farbe. Ihm dient der Werkstoff als Formfestlegung, doch wird dieser erst durch die Farbe zum vollständigen Werk. Der Künstler liebt das kraftvolle Kolorit: tiefes Schwarz, leuchtendes Rot oder Gelb, kräftiges Blau, erdiges Rotbraun, sattes Grün. Nahezu alle Arbeiten sind monochrom gehalten, wobei die durch die Faltung erzielte Richtungsänderung der Farbfläche zu einer differenzierten Farbwahrnehmung führt: Je nach Lichteinfall und Standort des Betrachters erscheinen beispielsweise ein Rot, ein Schwarz in ganz unterschiedlichen Nuancierungen. Während es sich dabei um eine virtuelle Farbvariation handelt, erzielt der Künstler eine reale, wenn er die Acrylfarbe mit einer Lasur, einem Firnis überzieht. Hier steht einer helleren nun eine dunklere Farbpartie gegenüber.
Was die gesamten Arbeiten von Wolfram Ullrich verbindet, ist die klare und rigide Formensprache des Konstruktivismus, die jeden Schnörkel meidet. Rechte Winkel und klar definierte Formen bestimmen die Kompositionen. Und einen weiteren übergreifenden Gedanken bildet der Bezug zur vorgegebenen räumlichen Situation. Die Arbeiten verstehen sich als eine Auseinandersetzung mit dem Raum, als ein ineinandergreifendes Wechselspiel von Form, Farbe und Körper. Stets kommt es zu einer Korrespondenz mit dem das Werk umgebenden Umfeld - sei es als Relief, als Wandsegment, als Bodenarbeit, als Stele oder als raumgreifendes Basis-Relief. Indem der Künstler in der Auswahl und Anordnung seiner Werke genau auf die vorgegebene Raumsituation eingeht, schafft er, über das jeweilige Einzelwerk hinaus, einen künstlerischen Erlebnis- und zugleich auch Kontemplationsraum, der sich dem Betrachter als eine ästhetische Ganzheit offeriert.

Richard W. Gassen: Wolfram Ullrich - Segmente, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein 2002

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